Gruppenbild SIN Festival

Klar, Rock am Ring zieht immer noch die Massen. Aber vielen Festivalgängern ist ein Headliner-Gewitter im Blockbuster-Format einfach nicht mehr genug. Die Musik spielt für die meisten immer noch die Hauptrolle, aber man möchte sich auch wohlfühlen, Community-Feeling statt Massenabfertigung. Eine echte persönliche Bereicherung statt drei Tage Alkohol-Blackout. Für das Secret Island Festival – kurz SIN – erstickt sich der Gedanken des Community-Buildings nicht im Aufbau einer Facebook-Fanpage.

Aus der Liebe zu elektronischer Musik ist ein soziales Experiment entstanden. Seit 2011 gründen 500 Musikliebhaber auf der schwedischen Insel Ulmsholm einen Staat –Sweutschland. Staatsräson: Techno im Einklang mit der Natur. „Eigentlich wollte ich mit ein paar schwedischen Freunden ein paar schöne Sommer in Göteborg verbringen. Am Ende war ich Sweutscher.“ Das Glück wollte es so, dass Marco, Student aus München, auf den letzten Drücker noch Karten für das SIN ergattern konnte. Und die sind nicht so leicht zu bekommen wie ein Ticket für Rock wo auch immer. 500 Tickets sind schnell weg, wenn ein Festival heißer Scheiß ist. Als Durchlauferhitzer dürfte sicher auch die Bundeshauptstadt dienen. Denn von hier kam die Idee und auch ein Großteil der Musiker und DJ’s, die auf dem SIN auftreten. Somit darf es auch niemanden verwundern, dass neben Schweden auffallend viele Berliner auf dem Felsen tanzen.

Angefangen hat das SIN noch als reines Musikfestival in einer außergewöhnlichen und außergewöhnlich schönen Location. 72 Stunden auf der felsigen Insel zu elektronischer Musik feiern und die Natur Ulmsholms mit allen ihren Widrigkeiten genießen. Von Anfang an traten alle Musiker ohne Gage auf und auch die Verantwortlichen und Helfer engagieren sich hier ähnlich dem MSG unentgeltlich. Nach und nach verloren auch die Bewohner des Festlandes die Skepsis und wurden Teil des Festivals. Mit Booten übergesetzt verkaufen sie Lebensmittel an die Sweutscher. Vielleicht war es gerade die erfolgreiche Integration der Bewohner vor der Insel, die 2011 den letzten Anstoß zu dem sozialen Experiment der Staatsgründung auf Zeit führte. Seitdem existiert Sweutschland – zumindest für fünf Tage im Jahr. Und deren Einbürgerunspolitik ist äußerst liberal: Ticket abgeben, persönliche Daten angeben, Bändchen umlegen lassen und schon sitzt man auf der Fähre gen Ulmsholm.

Aber wofür steht Sweutschland genau? Jeder Staat fußt ja im bestmöglichen Fall auf einem gemeinsamen Wertekanon. Der scheint im Falle Sweutschlands ein formbarer, aber nicht austauschbarer, zu sein, den jeder Bürger aktiv mitgestalten kann. „Wie viele gleichgesinnte Sweutscher habe ich sehr starke Meinungen zu unserem gegenwertigen System, das u.a. auf Ansammlung materieller Güter und das Aufsteigen in der sozialen Hierarchie durch Status und Wohlstand abzielt. Doch wir Sweutscher maßen es uns nicht an zu wissen, wer was wie besser machen sollte. Anstatt mit dem Zeigefinger rumzufuchteln und sich über das System zu beschweren, bietet Sweutschland die Plattform, um zu versuchen selbst ein „besseres“ System zu erschaffen und zu gestalten“, erklärt Björn Wurmbach, Hauptverantwortlicher von SIN, das Grundverständnis von Sweutschland. Und die Staatsform? „A participatory techno do-cracy“. Freiheit scheint das Bindemittel des Staates auf Zeit. „Wir überlassen den Bürgern selbst zu entscheiden, wie unser Zusammenleben angenehmer gestaltet werden kann. Es sind Ideale wie Gemeinschaft, Gleichheit, freie Meinungsäußerung, Liebe, Respekt für Mitmenschen, Techno und Natur, die uns vereinen und die wir in Sweutschland ausleben wollen.“ Die hohe Wertigkeit des Projekts hat auch die Europäische Union gegründet und unterstützt das SIN finanziell.

Die Wahlmöglichkeit der Teilnahme scheinen die geheime Soße des Festivals zu sein. Hier kann jeder mitmachen oder einfach entspannen und Sonnenauf- wie -untergang abwarten. Diese Außenansicht bestätigt auch Sweutscher Marco: „Man kann sich frei bewegen. Wer Lust hat, nimmt an beispielsweise an Debatten über Globalisierung oder einem Turntable-Workshop teil und wer nicht, der eben nicht. Man wird animiert sich zu beteiligen, aber ohne pushy zu sein. Jeder kann das machen, was er will.“

Bei all der Freiheit gibt es neben der Steuerpflicht in Form eines gültigen Eintrittstickets nur eine Verpflichtung: die Insel so zu verlassen, wie man sie vorgefunden hat – ohne Zigarettenstummel und Raviolo-Dosen. Ein fairer Deal mit Symbolik. Letztlich nimmt nicht nur jeder seinen Müll mit, sondern auch einzigartige Erinnerungen und wenn es nach Björn geht ein Sweutschland-Philosophie: „selbst Vorbild sein, bei sich selbst anfangen, statt nur zu reden. Live what you preach“.

Wer jetzt schon den Schlafsack für den Sommer 2013 schnüren möchte, muss leider noch etwas warten. Dieses Jahr wird das SIN ausgesetzt. Sich selbst gestatten die Veranstaltet rund um Björn Wurmbach allerdings keine Atempause. „In diesem Jahr gehen wir auf eine SIN-Tour durch einige Länder Europas. Dabei organisieren wir selber oder unterstützen Ableger bzw. spin-offs von Sweutschern, die sich von SIN haben inspirieren lassen und versuchen somit die Sweutschland-Philosophie an anderen Orten weiter zu kommunizieren und neue Menschen zu erreichen“, erklärt Björn. Watch out!

Philipp Hühne

Turntabeles im Sonnenuntergang